Christian Ehetreiber: Schlüsselbereiche in der Erinnerungsarbeit

Einige bisweilen provokante Thesen für Diskussion, Präzisierung, Kritik und Erprobung

Liebe Freundinnen und Freunde,

geschätzte Kolleginnen und Kollegen,

sehr geehrte Damen und Herren!

Vorweg bedanke ich mich bei meinem lieben Freund und Kooperationspartner in der Erinnerungsarbeit und in der politischen Bildung, Dr. Robert Eiter, dass er mich zum Vernetzungstreffen nach Schloss Puchberg eingeladen hat. Mich persönlich und unsere ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus verbindet eine langjährige projektbezogene, länderübergreifende Zusammenarbeit mit Oberösterreich in der Erinnerungskultur. Exemplarisch genannt seien die Projekte „Todesmarsch Eisenstraße 1945“ bzw. „Zwangsarbeit in der NS-Rüstungsindustrie“ mit Erinnerungszeichen in der Dippoldsau bei Weyer, in Kastenreith, in Eisenerz, Gleisdorf und Nitscha bei Gleisdorf, ebenso die Wanderausstellung „Der Koffer der Adele Kurzweil“, die wir an der HLW Weyer und im Museum Arbeitswelt in Steyr präsentieren durften.  Zuletzt sei die Workshopreihe „Lost Memories“ angeführt, bei der Dr. Robert Eiter ein beeindruckendes Fachreferat im Schloss Pürgg-Trautenfels über die von ihm seit Jahrzehnten betriebene Erinnerungsarbeit gehalten hat.

Qualitätsvolle Erinnerungsarbeit gründet meiner Erfahrung zufolge immer auf respektvoller, wertschätzender Kommunikation, die sich oft zu zielgerichteter Kooperation und dann fast immer zu echter Freundschaft entwickelt:  Neben Robert Eiter seien daher stellvertretend (!) meine lieben Freunde Mag. Robert Gradauer und Dr. Adi Brunnthaler aus Weyer, die Lehrer*innen der HLW Weyer sowie die engagierte intergenerative Projektgruppe des Vereins Friculum in Weyer und das Mauthausen Komitee Österreich mit einem herzlichen Dank für die Zusammenarbeit und die umgesetzten Erinnerungsprojekte genannt. Ich hoffe, wir werden die länderübergreifende Gedenkarbeit und politische Bildung in Zukunft noch vertiefen!

Wie kann ich in 15 Minuten meine seit dem Jahre 1978 in verschiedenen Rollen betriebene Erinnerungsarbeit in ihrer Quintessenz rekapitulieren?[1] Ich entschied mich dafür, in Thesenform einige Schlüsselbereiche in knapper Form anzureißen, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden können.

Die Entstehungsgeschichten erzeugt Motivation, Spannung, Identifikation… oder das Gegenteil!

Erinnerungsprojekte gründen auf verschiedenen Entstehungsgeschichten mit darin verwobenen Motiven, Interessen und Erwartungen. Die meisten Initiativen sind zivilgesellschaftliche Basisinitiativen engagierter Bürger*innen. Einige Erinnerungsprojekte sind Auftragsarbeiten der öffentlichen Hand, meist verbunden mit bedeutenden historischen Ereignissen, Persönlichkeiten oder anknüpfend an die „runden Gedenkjahre“ der Ersten und Zweiten Republik. Der thematische Bogen der Erinnerungsprojekte ist vielfältig und in mehrfacher Hinsicht spannungsgeladen. Die Entstehungsgeschichte gehört zu den unterschätzten, jedoch gut gestaltbaren Erfolgsbereichen. Die detektivische Freilegung verdrängter Kapitel der Regionalgeschichte, die Entdeckung von Fotosammlungen zur NS-Zeit auf dem Dachboden von Zeitzeug*innen oder Tonband- und Videoaufzeichnungen von Zeitzeug*innenengesprächen entfachen Neugier und intrinsische Motivation für die Initiator*innen von Erinnerungsprojekten. Dazu seien einige Beispiele angeführt:

Partisanen in der Obersteiermark? Als Student und Obmann des Trofaiacher Vereins für Friedensarbeit und Zivildienst las ich in der Donawitzer „Hüttenarbeiter-Zeitung“ von einer „Partisanengruppe Leoben-Donawitz“. Wir hatten nie zuvor davon gehört! Mein lieber Freund Janos recherchierte und fand an der Wiener UB die Dissertation von Willibald I. Holzer über die beiden steirischen Partisanengruppen und über die slowenischen Freiheitsbataillone. Anhand der in Holzers Dissertation genannten Namen durchforsteten wir das Telephonbuch des Bezirkes Leoben und fanden Max Muchitsch, Stahlstraße 1, Donawitz. Christian: „Sind Sie der Widerstandskämpfer Max Muchitsch?“ Max: „Ja, der bin ich!“ Christian: „Dürfen wir Sie über die Partisanengruppe Leoben-Donawitz interviewen?“ Max: „Jo sicher! Treff´ ma´ uns am Freitag, 19h00 im Gasthaus Schnuderl in Trofaiach. Wiederhören!“  Dieses erste Interview mit Max eröffnete unserer jungen Projektguppe völlig neue Perspektiven auf den – in der Öffentlichkeit ausgeblendeten – Widerstand in der NS-Zeit vor der eigenen Haustüre! Es folgten weitere Interviews mit den Partisanen Sepp Filz und Anton Wagner sowie mit den mutigen Frauen des Widerstandes, Christine Wagner und mit Cilli Muchitsch. Die packenden Gespräche und Archivrecherchen mündeten in die Ausstellung „Widerstand und Alltag. Die Eisenstraße im Dritten Reich“.

„Sind Sie der berühmte Herr Ehetreiber?“ So fragte mich Walter Dall-Asen, Privatchronist aus Landl eines Abends via Telephon. „Berühmt bin ich nicht, aber berüchtigt,“ antwortete ich. Walter hatte den Tiroler Ö1-Journalisten und Komponisten Bert Breit zu Gast, der über den Todesmarsch ein Journal Panorama für Ö1 machen wollte. Beim Interview in Bruck an der Mur machte Walter einen zunächst illusionär anmutenden Vorschlag: „Christian, fahren wir zum Eisenerzer Bürgermeister Hermann Auernigg. Ersuchen wir ihn um ein Mahnmal für die ungarischen Jüdinnen und Juden. Der Hermann war mein Lehrling!“ Ich vereinbarte den Termin, an dem BGM Auernigg, Walter, Heimo Halbrainer und ich zusammenkamen und den Startschuss fürs Projekt setzten. Am 18.10.2000 erfolgte der GR-Beschluss, der eine bis heute bestehende reichhaltige Erinnerungskultur über ein Vierteljahrhundert hinweg initiierte und in Eisenerz verankerte. BGM Thomas Rauninger und Kulturobmann GR Gerhard Niederhofer setzten 2024 zahlreiche Initiativen zu diesem 24 Jahre währenden Erinnerungsprogramm in Eisenerz, darunter den 17.Lebensmarsch zum Todesmarschmahnmal am Präbichl.

https://www.argejugend.at/?s=todesmarsch

Soziologenkongress um die Jahrtausendwende in den USA. Hannah P., Jugendfreundin ihrer von Nazis ermordeten Freundin Adele Kurzweil, trifft dort ihren Grazer Kollegen Christian F. Sie erzählte ihm von der tragischen Fluchtgeschichte der Familie Kurzweil, deren Flucht von Graz nach Montauban im August 1942 zu deren Verhaftung führte und danach zur Deportation nach Auschwitz, wo die Familie von den Nazis ermordet wurde. Eine französische Schüler*innengruppe machte sich anhand eines Kofferfundes in Montauban auf die Spurensuche nach der Familie Kurzweil. Die französische Projektgruppe, so Hannah P., suche eine Partnereinrichtung in Graz, um bilaterale Recherchen anzustellen. Christian F. kontaktierte den Historiker Heimo Halbrainer, der das Vorhaben an die ARGE Jugend herantrug. Der Rest dieser Geschichte ist mittlerweile längst Geschichte, zudem eine berührende Erfolgsgeschichte: Es folgte ein  österreichisch-französisches EU-Projekt,  die Ausstellung „Der Koffer der Adele Kurzweil“, die in über 30 Gemeinden und Städten gezeigt wurde, und eine  Buchpublikation im CLIO-Verlag.

Ein lesenswertes Tagebuch aus den 1930er Jahren: In der Leobener Geschichtswerkstätte 1988 traf der Historiker Dr. Karl Stocker den faszinierenden Zeitzeugen und Esperantisten Franz Schick, der seine entbehrungsreiche Jugend als Tischler in der Obersteiermark in Quartheften als Tagebuch dokumentiert hatte. Karl Stocker veröffentlichte das lesenswerte Tagebuch unter dem Titel „Gestohlene Jugend: Die Tagebücher und Aufzeichnungen des Franz Schick, 1930 bis 1933“.

Die wenigen Beispiele mögen verdeutlichen, auf welch´ verschlungenen Wegen und Umwegen ausgeblendete Kapitel der Regionalgeschichte ins Blickfeld rücken können, wobei der Zufall sehr oft Regie führt und detektivischer Spürsinn hilfreich ist.

Die Grundidee zur brillanten Idee weiterentwickeln und mit Feinschliff versehen!

Zu oft werden unausgegorene, „ungeschliffene“ Ideen zu schnell in eine – zumeist abgegriffene – 0815-Form der Umsetzung gebracht: Gedenkstein, Infotafel, und das war es schon, Mehr brauch´ma´net! Aus wenig originellen, kaum mitreißenden und faden Ideen lassen sich meist nur langweilige Projekte machen, insbesondere wenn sie „von oben“ verordnet werden.

Die gute Idee erfordert jedoch wie ein Rohdiamant einen Feinschliff, um sie zur brillanten Idee mit Strahlkraft weiterzuentwickeln. Eine faszinierende Lebensgeschichte, oppositionelles und widerständisches Handeln, dokumentierte Zivilcourage, Hilfeleistungen für Benachteiligte, Gewalthandlungen und andere Verbrechen bis zum Mord laden die Idee mit Spannung, Emotionen und Motivation für die weitere Arbeit daran auf. Es bedarf des echten engagierten Interesses am Thema, der akribischen Recherche in Archiven und Privatsammlungen, des detektivischen Blickes und der Freude über jede auf oft verschlungenen Wegen zutage geförderten Information, deren Erblicken des Tageslichts oft auf Zufällen und Fügungen beruht.[2]

Sichern Sie den zeitgeschichtlichen Forschungsstand zu Ihrem Projektthema inklusive kontroversieller Fragen innerhalb der Zeitgeschichte als Wissenschaft

Ohne fundiertes Bescheidwissen über den zeitgeschichtlichen Kontext sollten keine Erinnerungsprojekte gestartet werden. Die Einbringung des Forschungsstandes zum jeweiligen Thema ist unverzichtbar. Offene Fragen und kontroversielle Positionen der Forschung sollten transparent dargestellt werden, nicht verschwiegen, nicht geglättet, nicht politisch-ideologisch oder gar moralisierend aufgeladen werden. Der peinliche Streit um einige – wie sich später herausstellte – gefälschte bzw. falsch kontextualisierte Bilder der Wehrmachtsausstellung sollte ein ewiges Lehrstück sein, die Geschichte im wissenschaftlichen Kontext wie auch in der Bildungsarbeit nicht als politische Waffe oder als manipulatives Propagandainstrument einzusetzen.[3] Dieser Forschungsstand sollte vom Projektteam sorgfältig angeeignet, diskutiert und mit Materialien aus Gemeindearchiven, Museen und privaten Beständen „koloriert“ werden.

Archivare, Museumsleiter*innen und Historiker*innen geraten bei brisanten Themen der Zeitgeschichte mitunter unter unangenehmen medialen oder parteipolitischen Druck.[4]  Ein*e extern hinzugezogener Historiker*in kann diesen politischen Druck mit Fachkompetenz abfedern.

Entwickeln Sie ein überzeugendes Projektkonzept mit griffigen Bildern vom Nutzen und Wert Ihres Vorhabens

Für größere bzw. komplexere Erinnerungsprojekte bedarf es eines Projektkonzepts, das zumindest folgende Eckpunkte enthalten möge:

  • Projektmotivation und Entstehungsgeschichte
  • Ziele, Inhalte, Methoden, Formen, Formate und Designfragen
  • Darstellung des zeitgeschichtlichen Sachverhaltes
  • Arbeitspakete, Meilensteine, Zeitpläne und nachvollziehbaren Projektphasen nachvollziehbar
  • Plakative und bildhafte Darstellung der Produkte und Leistungen
  • Medien- und Öffentlichkeitsarbeit inkl. social media
  • Finanzierungs- und Ressourcenplan
  • Schaubilder und Infografiken zum Projekt bzw. zum Thema

Setzen Sie bitte kein „starres klassisches Projektmanagement“ ein, sondern setzen Sie auf „agiles Projektmanagement“, welches sich an der Dynamik  von Erinnerungsprojekten ausrichtet und Änderungen im Projektumfeld berücksichtigt in der Realisierung.

Was wollen Sie mit Ihrem Erinnerungsprojekt tatsächlich erreichen?

Die ARGE Jugend fokussiert bei Erinnerungsprojekten folgende Zielbereiche, die vom jeweiligen Projektteam zu gewichten sind.

Erinnerungsarbeit als würdevolles Gedenken an Opfer von politisch motivierter Gewalt in wessen Namen und unter welchem Banner auch immer!

Erinnerungsarbeit als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Ausdifferenzierung kommunaler, regionaler, nationaler und übernationaler Narrative auf Basis der „freigelegten Regionalgeschichte“[5]

Zeitgeschichtlich fundierte Erinnerungsarbeit als Medium der Demokratie- und  Menschenrechtsbildung, wenn interdisziplinäre Perspektiven für tiefschürfende Reflexionen eingebracht werden: von sozialpsychologischen, psychotherapeutischen, soziologischen, sprachwissenschaftlichen, politikwissenschaftlichen, philosophischen, juristischen und theologischen Zugängen in der Reflexionsarbeit, die auf „wirkliches Lernen aus der Geschichte“ abzielt, anstatt Stehsätze einzutrichtern.

Allein bleiben oder gemeinsam arbeiten? Miteinander arbeiten oder gegeneinander? Sich für die Sachziele des Projekts einsetzen oder für eine hidden agenda behind the curtains?

Manche Erinnerungsprojekte werden von engagierten Einzelkämpfern oder „Platzhirschen“, die kaum jemand mitmachen lassen, initiiert und realisiert. Diese Projekte bringen mitunter dennoch ansprechende Gedenkzeichen hervor, begeben sich jedoch der Chance, intergenerative Gespräche und Lernprozesse auf regionaler Ebene zu initiieren. Wir empfehlen daher, ein Projektteam zu formieren, das auf respektvoller Vertrauensbasis miteinander reden und zusammenarbeiten kann! Das Motto für die Verteilung von Aufgaben und Rollen könnte lauten:  Voluit, quod potuit et vice versa![6]

Geschichtswerkstätte im Universum der freien Rede oder in der sprachgekärcherten Echokammer?

Wer mit dem liberalen und weltoffenen Club 2, mit Jazz, Pop und Rock´n Roll sowie mit der Freisinnigkeit der 68er-Bewegung aufwachsen durfte, kann die seit social media entstandene Unkultur von Blasen, Echokammern und Shitstorms kaum ertragen! Wir begegnen in der Erinnerungsarbeit verschiedenen Codes und Sprachformen im Team, bei Zeitzeug*innen und beim Publikum: von „mundartlichem Sozialdialekt“, Alltagssprache über Wissenschafts- und Journalistenjargon bis zum sprachpolizeilichen Meinungs- und Erkennungsdienst, zur „Richtig-Sprech-Bevorvormundung“ und zum allseitigen Gesinnungs- und Tugendterror. Dieses üble Gebräu repressiver Sprachnormierung wird gelistet unter den Signaturen woke, cancel culture und political correctness. Diese unheiligen drei Sprachnormierungsversuche, die hinter alles zurückfallen, was sich je einer selbstreflexiven Aufklärung von Kant bis Habermas verpflichtet fühlt, wird zum Glück von der Mehrheit unserer Gesellschaft energisch zurückgewiesen.

Mit „Woke-Instrumenten“ der sprachlichen Bevormundung hätten wir kein einziges unserer über 40 realisierten Erinnerungsprojekte umsetzen können. Die Woke-Bewegung in all ihren Verästelungen und Sackgassen ist camouflierte Gegenaufklärung im Namen von vermeintlicher Sprachsensibilität bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber Intention, Kontext und der Vielfalt an Sprachspielen als Lebensformen.[7] Zur Vertiefung der Kritik an der Woke-Bewegung“ sei auf folgende drei Links verwiesen:

Zur Woke Bewegung Vorsicht Kränkung Robert Treichler: Zur Woke-Bewegung: Vorsicht, Kränkung! Essay von Robert Treichler

https://www.youtube.com/watch?v=QTOpNYePK5w&t=169s Das Ende der Political Correctness? | Philosophischer Stammtisch | SRF Kultur mit Konrad Paul Liessmann, Norbert Bolz, Catherine Newmark und Barbara Bliesch

https://www.youtube.com/watch?v=ZHuMFEbr-uA Dieter Nuhr über Rassismus und political correctness

Aus der Geschichte lernen? Ja, wenn wir individuelle und gemeinschaftliche Handlungsspielräume erkunden, verstehen, nutzen und trainieren

Das vermutlich in Ihrer und in meiner Schulzeit gegebene Aufsatzthema „Was wir aus der Geschichte lernen können“, sollte eigentlich wegen intellektueller Unterbelichtung von der Themenliste gestrichen oder präzisiert werden. Jeder und jede von uns, der oder die ernsthafte Erinnerungsprojekte mit fundierter Recherche, Lektüre von Fachliteratur, intensiven Zeitzeugengesprächen und interdisziplinären Reflexionen durchgeführt hat, weiß: wie aufwändig, wie komplex und wie anstrengend die Lern- und Entwicklungsprozesse sind, die an den mentalen Modellen der Lernenden ansetzen müssen, um ein Lernen aus der Geschichte zumindest in Konturen zu ermöglichen und dazu die Türen im Oberstübchen aufzumachen. Die Reflexionshilfen „Circle of Influence“, das Konzept der Handlungsspielräume innerhalb des Kontinuums „Mitmachen an Massentötungen versus Engagement auf Seiten der Opfer von politischer Gewalt“ und Lerntheorien sind bewährte Zugänge, um einige Lerneffekte mit nachhal(l)tiger Tiefenwirkung via Erinnerungsarbeit zu erzielen. Mit oberflächlichen Parolen, die aus unzureichender interdisziplinärer Reflexion erwachsen, lässt sich – in den Worten des Philosophen Rudolf Burger – allenfalls ein „antifaschistischer Karneval“ organisieren, kaum jedoch eine gefestigte Gewissensstärke für Frieden, Freiheit und Demokratie etablieren.

Mit Marathonausdauer vom Erinnerungsprojekt zur Erinnerungskultur

Manche Erinnerungsprojekte bleiben „Inseln“, die über die Jahre im Meer des kollektiven Vergessens versinken oder buchstäblich überwuchert werden. Damit Ihre Erinnerungsprojekte Teil einer langfristigen lebendigen Erinnerungskultur werden, bedarf es der intergenerativen Ausdauer von Marathonläufern und von engagierten Motivator*innen, die das „Staffelholz des Erinnerns“ an die nächsten Generationen weiterreichen.

Ein in vielen steirischen Projektgruppen der Erinnerungskultur aktuelles Problem ist die schwierige „Übergabe des Staffelholzes des Erinnerns“. Die verdienstvollen Pionier*innen und Initiator*innen sind längst ergraute Oldies geworden, mitunter jedoch ohne eine intergenerative Teamkultur etabliert zu haben. Diese Führungsaufgabe steht daher vielen Gedenkinitiativen ins Haus!

Ich durfte am 16.9.2024 meine Rolle als GF-Obmann der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus an meinen sehr geschätzten Nachfolger Mag. Dominik Knes übergeben. Zudem verfügen wir über ein junges Team mit fünf neuen Vorstandsmitgliedern, darunter der bewährte, dialogfähige und engagierte Historiker Mag. Franz Stangl, der über eine fundierte Expertise in der Erinnerungsarbeit verfügt.

Anzumerken ist resümierend, dass die Erinnerungsarbeit sich nicht nur auf den Zeitraum 1933 bis 1945 fokussieren sollte. Es ist längst an der Zeit die zeitgeschichtlichen Kapitel der 2. Republik mit dem –  aus der antifaschistischen Bildungsarbeit gewonnenen – Methoden- und Werkzeugkoffer mit intergenerativer, partizipativer Bürger*innenbeteiligung zu erarbeiten.

Vgl. dazu unsere Facebook-Gruppe zu den 1980er Jahren unter folgendem Link:

https://www.facebook.com/groups/reformpolitik1970er

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und stehe für Ihre Fragen und Statements gerne zur Verfügung. Christian Ehetreiber

 

Fußnoten:

[1] (Fußnote zur Überschrift des Blogs): Auf Vermittlung meines damaligen Klassenvorstandes, des Historikers Dr. Robert Hinteregger, interviewte ich bereits im Jahr 1978 im Rahmen eines Projektes zum 1934er Jahr dessen Vater – einen Februarkämpfer –  im ehemaligen Schutzbundlokal Hans und Theresia Schnuderl in Trofaiach. Ich nahm dieses zweistündige Interview mit dem Radiorekorder meines Vaters auf und transkribierte es mit einer alten mechanischen Schreibmaschine.

[2] Beim Projekt „Widerstand und Alltag“ 1988 in Trofaiach, erwähnte ein Geschichtelehrer ganz beiläufig, dass es großformatige, gestochen scharfe Bilder von Trofaiach unter Hakenkreuzbeflaggung beim “Anschluss 1938“ gebe, die erst auf höflich insistierende Nachfrage des Projektteams beim zuständigen Beamten den Weg in die Ausstellung fanden.

[3] WIKIPEDIA rekapituliert dieses Lehrstück für einen sorgfältigen Umgang mit zeitgeschichtlichen Quellen: 1999 wies der Historiker Bogdan Musial auf Fehler bei der Zuordnung von zehn Fotos hin, die „nicht deutsche, sondern sowjetische Verbrechen im Sommer 1941 zeigen“. Er behauptete darüber hinaus, „etwa die Hälfte“ der Fotos Handlungen zeigten, die nichts mit Kriegsverbrechen zu tun gehabt hätten. Die zunehmende Kritik von Historikern und das dadurch ausgelöste Medienecho bewogen den Institutsleiter Jan Philipp Reemtsma, die Ausstellung am 4. November 1999 vorläufig zurückzuziehen. Er beauftragte eine Historikerkommission mit der Überprüfung der Ausstellung. Reemtsma schloss Hannes Heer, der eine Neufassung ablehnte und nur Korrekturen der bemängelten Fotos befürwortete, im Sommer 2000 von der Leitung und weiteren Mitarbeit an der neuen Ausstellung aus.Die ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus wies im Rahmen der 1997 in Graz gezeigten „Wehrmachtsausstellung“ in einer Presseaussendung bereits damals darauf hin, die in ihrer Zuordnung zu den gezeigten Sachverhalten angezweifelten Bilder aus der Ausstellung zu entfernen, was zu erbosten Reaktionen der „politisch-moralischen Chefverteidiger der Ausstellung“ führte. Wie Bogdan Musials akribische Recherche einige Jahre zeigte, hatte die ARGE Jugend Recht in ihrer seriösen wissenschaftlichen Einschätzung, die in Zweifel gezogenen Bilder NICHT zu präsentieren!

[4] Eine Museumsleiterin erzählte mir ungefähr folgende Belehrung durch ihren Bürgermeister: „Die Namen der Nazis in unserer Gemeinde, die tun wir aber nicht benennen, Frau Museumsleiterin! Da genügt ja K. M. statt Karl Mustermann. Und außerdem wollen Sie ja auch im kommenden Jahr noch das Museum leiten. Danke für Ihr Verständnis!“ Die Museumsleiterin bewies jedoch Mut,  zog externe Profis hinzu und schrieb die Namen der Nazis zu den Bildern der Ausstellung.

[5] Die zeitgeschichtliche Forschung seit den 1970er Jahren und die daran anknüpfende neue Erinnerungskultur hat die Mythen und Narrative der Stunde null entzaubert und demaskiert: von der vermeintlich nicht in Kriegsverbrechen verwickelten „anständigen Landsergeneration“; niemand habe etwas gegen die Nazis unternehmen können; man habe von den Gräueln nix gewusst; niemand habe Widerstand geleistet usw.

[6] Erfragen Sie die starken Motive, Interessen und die Kompetenzen Ihrer Projektaktivist*innen: Entwickeln Sie daraus die Aufgaben, Rollen und Verantwortlichkeiten im Team. Also nicht Rollenstruktur vor den Aufgaben stellen, sondern zuerst die Aufgaben definieren und dann fragen: Wer kann/will diese Aufgabe motiviert ausführen?

Trotz intergenerativer Bürger*innenbeteiligung plus Diversität: Hüten Sie sich vor notorischen Störenfrieden, Energiefressern und Owizahrern!

Das Teams braucht eine umsichtige Führung, die Entscheidungen trifft, das Team in partizipativer Weise Arbeiten übernehmen lässt, den Projektfortschritt im Auge behält und die Kommunikation nach innen und außen steuert, Medien und social media seriös nutzen kann. Der Balanceakt in der Teamkultur besteht in der oft gegebenen ausgeprägten Diversität: Politisch-ideologische Vielfalt; Religiöse Vielfalt inklusive konfessionsfreie Bürger*innen; Sensibilität für Geschlechtsrollen; Status- und Machtgefälle u.v.m.

[7] In allen unseren Workshops, Seminaren und Geschichtswerkstätten der ARGE Jugend genügen uns bis heute Minimalstandards der Kommunikation: der wechselseitige Respekt, die Höflichkeit und Wertschätzung, der Verzicht auf alle Formen von Gewalt, Akzeptanz oder zumindest Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen, die Anerkennung der Rechtsordnung und bekannter allgemein gültiger Regeln des Kommunizierens, aber auch das innovationserzeugende Prinzip „Konfrontation im Dialog“, d.h. bei noch so kantig, provokant oder polemisch vorgetragener Argumentation, nicht auf der Beziehungsebene den Gesprächspartner herabzuwürdigen oder zu demütigen, sondern die Schärfe und Kantigkeit der Argumentation auf der Inhalts- und Sachebene zu zelebrieren. Zudem ersuchen wir um Stress-, Frustrations- und Ambiguitätstoleranz, wenn es um die diskursive Durchdringung konfliktbehafteter Themen der Regionalgeschichte geht, wobei wir auf verschieden ausgeprägte Niveaus des Resilienzsinnes achtsam eingehen.

Die von den Teilnehmer*innen mit Legitimation ausgestattete Moderation sollte die zitierten Kommunikationsregeln in dosierter, abgestufter Form durchsetzen dürfen. Wir dulden jedoch in unseren Workshops nicht, dass sich ein*e „woke*r“ Gesprächspartner oder -in zum „Richter über andere Gesprächspartner*innen“ erhebt und erklärt, „was man wie sagen darf oder nicht“.